Der Chor als Heimat (Würzburger Katholisches Sonntagsblatt, Nr. 10 - S. 11, 28.02.17)
„Und beim Singen immer schön weich in den Knien bleiben!“ Dirigent Rudolf Haidu hebt die Hände und der Valentin-Becker-Chor setzt ein, punktgenau, auch der Sänger in der ersten Reihe. Der kann den Dirigenten aber gar nicht sehen. Michael Lieb ist von Geburt an blind. „Ich folge intuitiv den Impulsen der anderen“, erklärt er. Der Dirigent vermutet, dass er über die anderen Sinne ein viel feineres Gefühl als wir Sehenden hat. Lieb ist aber auch stets bestens vorbereitet. Sorgfältig erarbeitet er zuhause die jeweiligenStücke. Die Noten sind in dicke Bögen geprägt. Für Sehende sind die winzigen Punkte der Braille-Schrift kaum zu erkennen; Liebs geübte Finger ertasten sie jedoch mühelos. Der Sänger hat die komplizierte Notenschrift bereits als Kind erlernt. „Nicht jeder Blinde kann auch Noten lesen“, erläutert er. Das System benutzt diePunktkombinationen der Buchstaben, um die Notenwerte darzustellen. Eine Achtelnote des Tons „F“ wird beispielsweise durch den Buchstaben „G“ symbolisiert.
Es gibt nicht alles
Noten in Blindenschrift kann man nicht einfach im Musikgeschäft kaufen. „Die meisten leihe ich mir aus, entweder bei der Notenbeschaffungsstelle in Leipzig oder bei der Blindenbücherei in der Schweiz“, erzählt Lieb. Falls beide Institutionen ein gesuchtes Werk nicht vorrätig haben, hilft eine Mailingliste blinder Musiker und ihrer Freunde. Manches rare Werk hat der Musiker so bereits erhalten. Schwierig wird es, wenn es ein Musikstück überhaupt noch nicht in Braille-Schrift gibt. „In einem solchen Fall kann ich in Leipzig eine Notenübertragung vornehmen lassen“, berichtet Lieb. Dieser Dienst kostet allerdings etwas: Für den Satz einer Kantate zahlte er zum Beispiel 30 Euro. Wurde ein Werk dann einmal übertragen, steht es auch der Allgemeinheit zur Verfügung. So vergrößert sich das Gesamtrepertoire kontinuierlich. Lieb hat am heimischen Computer auch schon selbst Musik übertragen. Dafür besitzt er ein kleines Aufnahmegerät, mit dem er auch bei den Proben neue Stücke mitschneiden kann: „Der Dirigent spielt die einzelnen Stimmen auf dem Klavier vor; das ist sehr hilfreich!“ Leichte Werke lerne er auch schnell auswendig. Leidenschaft Das Singen ist nicht Liebs einzige musikalische Leidenschaft. Der begabte Musiker spielt seit seinem sechsten Lebensjahr Klavier und hat auch das Orgelspiel gelernt. Seine besondere Liebe gehört allerdings schon dem Chorgesang. „Der Valentin-Becker-Chor ist für mich ein Stück Heimat“,betont er. Auf Anhieb habe er diese Heimat aber nicht gefunden, denn ein anderer Chor hatte ihn wegen seiner Behinderung abgelehnt. Der Dirigent habe ihm nicht geglaubt, dass er den Einsätzen folgen könne, und ihm auch keine Chance gegeben, bei einem Probesingen das Gegenteil zu beweisen. Im Valentin-Becker-Chor fühlt sich der Tenor jetzt jedoch pudelwohl. Er liebt das bunte, vom Frühbarock bis zur Spätromantik reichende Repertoire ebenso wie die Vielfalt der Sänger. „Bei uns sind alle Altersgruppen vertreten“, sagt er lachend. Müsse er den Chor beschreiben, fiele ihm sofort ein Bild ein: „Wir sind wie eine schöne, farbige Blumenwiese ...“ Text und Fotos: Karen A. Braun